Kleines Estland groß bei der Digitalisierung

Seit Ende 2024 kann man auch den Antrag für die Scheidung in Estland digital stellen – seitdem ist das nördlichste Land des Baltikums zu 100 Prozent digital. Es war der letzte und aus der Sicht der Esten wohl auch unwichtigste Verwaltungsakt, den man digitalisiert hat. Doch das Signal ist eindeutig: der estnische Staat funktioniert komplett digital. In Deutschland ist man davon noch sehr weit entfernt. 

Estland wurde 1991 endlich dauerhaft unabhängig. Davor hatte das Land – nach einer kurzen Phase der Unabhängigkeit von 1918 bis 1940 – jahrzehntelang zur Sowjetunion gehört. Doch mit der Eigenständigkeit erkannten die Esten, dass sie es mit nur 1,3 Millionen Bürgerinnen und Bürgern schwer haben mit einem eigenständigen Staat. Und setzten deshalb konsequent von Anfang an auf Digitalisierung – mit großen Erfolg. 

Zu Gast bei e-estonia

Dank eines Tipps eines Estland-Kenners lerne ich e-estonia kennen – das Informationszentrum für die Digitalisierung Estlands. Dort kann sich jede*r Vorträge zu dem Thema anhören – ganz analog, allerdings spannend gemacht und mit der Gelegenheit zu Nachfragen. Ich frage per e-mail an und habe binnen weniger Minuten eine Antwort. Am nächsten Tag bekomme ich die Möglichkeit mich in dem Zentrum in der Hauptstadt Tallinn einer Gruppe von Studierenden aus Asien anzuschließen. Und das mache ich.

Rannar Park von e-estonia führt uns ein in das digitale Estland. Ausgangspunkt war eine klare Analyse zur Staatsgründung: das Land ist klein, die Zahl der Einwohner sinkt  – trotz Zuwanderung bis heute. Und so ging man daran, wenn man so will, den Staat digital zu gründen. Grundlage ist eine Personennummer und ein digitaler Ausweis, den Jede*r auf dem Handy bei sich tragen kann, aber auch immer noch analog als Plastikkarte, wenn man will. Das sei wichtig in Estland: niemand werde gezwungen zur Digitalisierung, es gibt auch noch analoge Möglichkeiten. Und noch etwas ist Rannar Park wichtig: Digitalisierung sei ein Ausdruck moderner Gesellschaften; bei konservativen Regierungen bleibt die Digitalisierung zumeist zurück. 

Bestes Beispiel für die Digitalisierung ist das digitale Wahlrecht: in Estland kann man digital wählen, muss man aber nicht. Bei der letzten Wahl 2023 nutzten 51 Prozent der Esten die digitale Möglichkeit der Abstimmung. Das zeigt auch, das viele Bürger*innen dem analogen Kreuzchen auf dem Wahlzettel noch mehr vertrauen. Denn natürlich ist das i-voting nicht unumstritten. Doch die Tendenz der digitalen Stimmabgabe ist eindeutig steigend. Der Vorteil bei der digitalen Wahl, so Rannar: man kann innerhalb eines bestimmten Zeitraums seine Wahl noch einmal ändern und jemand anders oder eine andere Partei wählen. Und man kann als Este ohne Probleme auch wählen, wenn man im Ausland unterwegs ist. Bei der letzten Bundestagswahl in Deutschland kamen Stimmzettel, die in Botschaften im Ausland abgegeben wurden, zum Teil nicht mehr rechtzeitig an, um ausgezählt zu werden.

Digitale Steuererklärung und Bildung

Der Großteil der Digitalisierung in Estland geschieht durch Unternehmen, die staatliche Bürokratie ist klein. Ein großer Vorteil: das spart sehr viel Geld und die Verwaltung beeinflusst – anders als zum Beispiel in Deutschland – den Weg des Staates nicht. Und auch die Bürger*innen sparen viel Geld durch die Digitalisierung. Zum Beispiel bei der Steuererklärung. Die ist binnen weniger Minuten von zuhause aus erledigt. Auch das Schulwesen – zum Beispiel die Schulbücher – wurde schon vor langer Zeit digitalisiert. Zwar findet die Schule normalerweise an vier Tagen in Präsenz statt, doch zu Zeiten von Corona gab es in Estland keinerlei Probleme, weil die Schüler*innen einfach von zuhause aus am Unterricht teilnehmen konnten. Estland hat sehr frühzeitig die Bedeutung von Bildung erkannt und gilt heute als hoch gebildetes Land, exportiert Wissen. 

Erfolgreiche Unternehmen

Vor allem die breit aufgestellte Wirtschaft profitiert sehr stark von der Digitalisierung Estlands. Vorzeigeunternehmen ist Skype, das 2003 als Start-up von drei Esten gegründet wurde und in frühen Jahren sehr erfolgreich war auf dem Markt der Videokonferenzen. Ich konnte einen der Gründer, Ahti Heinla, vor einigen Jahren bei einem Filmprojekt in Tallinn kennenlernen. Später hat er sich mit dem Unternehmen Starship – Technologies mit der Zukunft der Auslieferung von Produkten durch kleine mobile Roboter beschäftigt. Man siehst sie in Estland oder auch Finnland gelegentlich autonom unterwegs bei der Auslieferung.

Wirtschaftlich ist Estland sehr erfolgreich. Und wer mag, kann sich auch als Nicht-Este an dem Erfolg beteiligen: man kann – natürlich digital – eine E-Residency in Estland erwerben. Damit ist man kein Bürger von Estland und bekommt keinen Pass, aber man kann innerhalb kurzer Zeit dort ein Unternehmen gründen und damit vom digitalisierten Staat profitieren – auch als Ausländer*in. Estland profitiert davon finanziell. Denn wer so ein estnisches Start-up im Ausland gründet und mit dem Unternehmen Gewinne macht, zahlt in Estland Steuern.  

Natürlich gibt es auch kritische Stimmen, aber die Akzeptanz der digitalen Dienstleistungen im kleinsten der drei baltischen Staaten ist hoch. Estland hat es außerdem verstanden, als kleines Land große Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen. 

Und bei aller Digitalisierung noch eine wichtige Information: den Antrag auf Scheidung oder auch Heirat kann man digital stellen. Für die persönliche Unterschrift muss man dann doch noch aufs Amt kommen.

Beitrag zur Sicherheit des Landes

Estland gelingt damit auch die wichtige weltweite Vernetzung – und das ist im Angesicht der Bedrohung durch Russland von großem Wert. Denn Estland hat eine lange Grenze zu Russland, ist Teil der EU, der NATO und dank der Digitalisierung auch Teil der globalen Wirtschaft. Angesichts der langen Vergangenheit als Teil der Sowjetunion weiß Estland, was Freiheit bedeutet. Von 1944 bis 1991 starben mehr als 20.000 Esten durch die Verfolgung innerhalb der Sowjetunion. Menschen wurden in andere Teile Russlands deportiert oder flohen in den Westen. 

Bei einer Reise durch Estland begegnet man immer wieder der sowjetischen Vergangenheit – und man erlebt das moderne aufgeschlossene Estland.

Mit Leichtigkeit: Erinnerungen an Christo

Ästhetik und Leichtigkeit – das ist es, was ich spontan mit Christo verbinde. Was haben wir ihm nicht alles zu verdanken: das Gefühl leicht schwebend über das Wasser zu laufen oder das Bild eines weltoffenen, und lockeren Deutschlands. Jetzt ist der Künstler im Alter von 84 Jahren in New York gestorben. Für die BR Abendschau habe ich einige persönliche Erinnerungen gesammelt, unter anderem bei Galerist Holger Weinstock von der Galerie Kersten in Brunnthal bei München.

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Wrapped Reichstag

Ich habe ihn – wie viele andere Deutsche – 1995 im Berlin am Reichstag erstmals richtig erlebt und wahrgenommen. Wie er den Reichstag – Symbol für Nationalsozialismus und Teilung – mit dem silbrigen Stoff verzauberte. Auch wenn es – typisch deutsch – einer langen Vorgeschichte und vieler Diskussionen bedurfte. Und die Entscheidung fiel im Bundestag nur mit einer knappen Mehrheit für die Realisierung aus. Christo versah den Titel seiner Kunstwerke ja jeweils mit dem Zeitraum von der ersten Idee, über die Genehmigungen bis zur Realisierung: „Wrapped Reichstag, Berlin, 1971-1995“.

Floating Piers: Lago d'Iseo

Sein vorletztes Projekt ist uns am besten in Erinnerung. Die Floating Piers auf dem Lago d’Iseo in Norditalien. Es war gut erreichbar und hatte  einen ganz anderen Charakter als seine früheren Projekte: voller Leichtigkeit konnten wir auf leicht schwankenden Stegen auf glänzendem Stoff drei Kilometer lang über den See laufen. Meine Erlebnisse habe ich damals im Blog beschrieben und in einem Film festgehalten.

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Und glückliche Umstände führten dazu, dass wir dem Iseosee auch einige Wochen und wenige Tage vor dem Start einen Besuch abstatten konnten. Beeindruckend: der Tag bevor die Massen kamen. Das Projekt war fertig und lag friedlich im Wasser – ein Tag für Genießer. Und beeindruckend auch die Pressekonferenz und der Besuch mit Christo auf den Floating Piers. Er erklärte mir, dass wir unbedingt barfuß darauf laufen sollen, was wir natürlich auch taten!

Die Bezeichnung „Verpackungskünstler“ haben Jeanne-Claude und Christo übrigens nie gemocht. Es wird ihnen auch nicht annähernd gerecht. „Verhüllungskünstler“ habe ich in einem Nachruf gelesen. Aber auch das beschreibt nur einen Teil ihrer Arbeit. Vielleicht „Verwandlungskünstler“? Egal, jeder soll sich sein eigenes Bild machen von Ihrer vielgestaltigen Arbeit.  Sehr empfehlenswert übrigens ihre eigene Website:

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The Mastaba in London

Im Sommer 2018 in London das nächste, etwas kleinere Christo-Erlebnis. Auf einem künstlichen See im Hyde Park lässt Christo einen gigantischen Stapel aus 7506 gestapelten Ölfässern schwimmen. Und wir sind mit dem Tretboot drumherum gefahren. Die Idee zu dem Projekt von Christo und seiner 2009 verstorbenen Frau Jeanne-Claude ist schon alt. Und eigentlich sollte „The Mastaba“ in viel größerer Dimension einmal in Texas und später in Abu Dhabi mitten in der Wüste mit 410.000 Ölfässern realisiert werden. Tatsächlich findet sich das Projekt auf der offiziellen Seite von Christo noch als „Work in Progress“.

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L 'Arc de triomphe, Paris, Wrapped

Bei aller Trauer über den Tod von Christo gibt es auch eine erstaunliche Nachricht: der Triumphbogen in Paris wird trotzdem wie geplant eingepackt. Ursprünglich war das Projekt zunächst für das Frühjahr 2020 geplant, dann auf den Herbst verschoben und schließlich wegen der Coronakrise auf Herbst 2021. Und dann soll es auch tatsächlich stattfinden: vom 18. September bis 3. Oktober 2021.

Christo: L’Arc de Triomphe, Wrapped (Project for Paris) Place de l’Etoile – Charles de GaulleDrawing 2020 in two parts15 x 96″ and 42 x 96″ (38 x 244 cm and 106.6 x 244 cm)Pencil, charcoal, pastel, wax crayon, enamel paint, map and fabric samplePhoto: André Grossmann © 2020 Christo

Und auf Arte findet Ihr derzeit noch die Doku „Christo – Walking on Water“